„KREUZWORTRÄTSEL REICHEN NICHT!“
Patienten mit Alzheimer-Demenz entwickeln sich von selbstständigen Persönlichkeiten zurück zum Kind. Prof. Dr. med. Arendt erklärt im Interview, warum das so ist, mögliche Vorsorge und Behandlungen sowie den Wert der Alzheimer-Forschung für uns alle.
Wir haben rund eine Billion Zellen im Gehirn und es ist normal, dass mit der Zeit Nervenzellen und -funktionen verloren gehen. Ab wann spricht man von Alzheimer?
Alzheimer ist eine demenzielle Erkrankung, die mit einem fortschreitenden Verlust kognitiver Funktionen einhergeht, also Fähigkeiten wie Erinnern oder Planen. Im Fall von Demenz unterscheidet sich dieser deutlich von dem normalen Alterungsprozess, bei dem es natürlich auch zu Einschränkungen kommt. Doch die alterungsbedingte Abnahme von Nervenzellen ist nicht so hoch, wie oft angenommen. Wenn ich mal meine Brille verlege oder einen Termin vergesse, ist das nicht krankhaft. Bei Alzheimer-Demenz ist der Untergang an Nervenzellen besonders stark und bringt eine deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität mit sich. Sie verschlimmert sich ständig und wird nicht wieder besser.
Welche Symptome weisen Laien auf Alzheimer hin?
Wenn sich das Kurzzeitgedächtnis konstant verändert, vor allem bei der Wortfindung, muss man an eine krankhafte Störung denken. Typisch sind auch nachlassende rechnerische Fähigkeiten, z. B. Zahlendreher bei der Überweisung. Es hängt teilweise vom Bildungsstand ab: Wer gewandter ist, kann vieles kompensieren. Immanuel Kant, der im Alter auch von der Krankheit betroffen war, sagte „Gefäß mit Henkel“, weil ihm das Wort „Tasse“ nicht mehr einfiel. Meist fallen Veränderungen zuerst den Angehörigen auf. Sie sollten dann möglichst schnell einen Neurologen oder einen Psychiater für eine spezifische Diagnostik hinzuziehen. Je früher ein Patient eine Behandlung bekommt, desto besser hilft sie. Denn es ist wie beim Schlittenfahren: Irgendwann wird es ganz steil und Anhalten unmöglich.
Wie ist die Erkrankung für Experten zu erkennen?
Wir können heute chemische Veränderungen im Gehirn eines Erkrankten sichtbar machen, die auf einen Verlust von Nervenzellen hinweisen. Dieser Prozess des Zelltodes geht mit der Ablagerung bestimmter Proteine im Gehirn einher. Das stellen wir durch Bildgebung (MRT, PET) fest, durch eine Untersuchung von Nervenflüssigkeit und in näherer Zukunft wahrscheinlich auch durch eine Blutuntersuchung.
Schon Alzheimer entdeckte Proteine bei dementen Patienten, dabei werden die überall im Körper produziert – warum machen sie im Gehirn Probleme?
Bei einer Alzheimer-Erkrankung ist die Produktion des Amyloid-Peptids (s. Zahlen und Fakten weiter unten) sehr verstärkt und das Gehirn nicht in der Lage, die sich bildenden Verklumpungen auszuscheiden. Man muss sich das wie bei der Atommüll-Endlagerung vorstellen, es wird irgendwo hingepackt in der Hoffnung, dass der Müll nicht wieder rauskommt. Bei Antikörpertherapien wird versucht, die Ablagerungen zu beseitigen, weil davon ausgegangen wird, dass sie die Erkrankung verursachen. Das ist aber letztlich unbewiesen.
Sie arbeiten an der Frühdiagnostik, um den Ausbruch von Alzheimer zu verhindern …
Eines der Probleme ist der stumme und frühzeitige Beginn. Wir müssen davon ausgehen, dass die Erkrankung Jahre oder Jahrzehnte beginnt, bevor sie sichtbar wird. Es könnte sogar eine angeborene Störung sein. Wir müssen in dieses klinisch stumme Zeitfenster schauen.
Sie und Ihr Team haben einen Bluttest entwickelt, mit dem Alzheimer früh entdeckt werden könnte, richtig?
Es werden in den nächsten Jahren mehrere Blutuntersuchungen auf den Markt kommen. Im Bereich der Umgebung der Immunzellen gibt es bestimmte Veränderungen im Blut, parallel zu den Ablagerungen im Gehirn. Alzheimer ist eben nicht nur eine Gehirnerkrankung, sondern eine systemische Erkrankung des Körpers. Auch in anderen Organen sind die Proteinablagerungen zu finden, hier an erster Stelle im Blut, das ja auch ein Organ ist – eines, an das wir diagnostisch relativ gut rankommen.
Alzheimers erste Patientin war erst um die 50 Jahre alt.
Wenn man mit 40, 50 oder schon mit 30 Jahren demenzielle Symptome entwickelt, dann ist das ein starker Hinweis auf eine familiäre Form. Sie ist mit genetischen Untersuchungen relativ leicht zu erkennen und sehr selten. Die zweite, spontane Form tritt dagegen bei über 99 Prozent der Fälle auf. Auch hier gibt es eine Vielzahl von Risiko-Genen, aber keiner weiß genau, welche ausschlaggebend für den Ausbruch der Erkrankung sind. Zusätzlich sind bestimmte Lebensereignisse und Umweltfaktoren notwendig, um die Erkrankung auszulösen.
Erhöht Stress das Risiko, an Alzheimer zu erkranken?
Was für den einen Stress ist, ist für den anderen Spaß. Ich würde z. B. nie Bungee springen! Letztlich ist alles risikoerhöhend, was biologisch schädlich ist: Gifte wie Alkohol und Tabak, Unfälle… Wenn unsere Regenerierungskräfte durch andere Prozesse in Beschlag genommen werden, etwa durch chronischen Alkoholkonsum oder Minderdurchblutung des Gehirns bei Arteriosklerose, erhöht das das Risiko. Erhöhter Blutdruck und Übergewicht gehören zu den sehr verbreiteten Risikofaktoren, sind aber gut behandelbar und das Risiko kann gesenkt werden.
„Je früher ein Patient eine Behandlung bekommt, desto besser funktioniert sie.“
Kann man mit Brainjogging vorsorgen?
Kreuzworträtsel reichen nicht, die haben ihre eigene Logik und erfordern Spezialkenntnisse. Sie trainieren nicht die Anforderungen, die das Leben an uns stellt. Aber es hilft, das Gehirn in Anspruch zu nehmen: Use it or loose it! Es ist wie ein Muskel, der trainiert werden kann. Die Prävention gegen Alzheimer beginnt deshalb in der Kindheit. Lebenslange Bildung schützt uns und wir sollten unsere geistigen Fähigkeiten ein Leben lang weiterentwickeln. Auch das alternde und alte Gehirn ist in einem extrem hohen Maße lernfähig. Dabei verändern sich Gehirnstrukturen – im alten Gehirn geschieht das etwas langsamer, aber im Prinzip genauso wie in der Jugend.
Welches Training empfehlen Sie?
Das Training sollte in den Alltag integriert und ein Bedürfnis sein: ein Buch lesen, eine Sprache lernen, am Leben teilnehmen. Menschen, die viele Freunde haben und sozial interagieren, scheinen besser geschützt zu sein. Schädlich ist dagegen, wenn einer sich eingräbt oder nur aufs Handy guckt.
Sie sagen, dass es erst wegen recht junger Veränderungen im menschlichen Genom beim Menschen heute zu Alzheimer kommt – was ist geschehen?
Die pathologischen Störungen im Gehirn bei der Alzheimerschen Erkrankung sind nicht gleichmäßig verteilt, sie treten an bestimmten Stellen zuerst auf und breiten sich dann im Gehirn aus. Manche Hirnregionen sind besonders empfindlich, und zwar jene, die wir in der Hirnevolution, also in der Entwicklung vom Menschenaffen zum Menschen, besonders spät erworben haben. Dazu gehören jene Regionen, die an spezifisch menschlichen Funktionen wie Sprache, dem Erfassen komplexer Zusammenhänge, Rechnen oder Empathie beteiligt sind. Und es gibt eine Parallele zur Entwicklung des Individuums vom Säugling zum Erwachsenen. An Alzheimer erkrankte Menschen verlieren jene Funktionen zuerst, die sie in der Entwicklung vom Säugling zum Jugendlichen zuletzt erworben haben, wohingegen früh erworbene Fähigkeiten bis zum Schluss erhalten bleiben. Z. B. lächeln Säuglinge ganz früh ihre Eltern an, so wie Alzheimer-Patienten bis in die allerletzten Erkrankungsstadien hinein. Auch alle weiteren Funktionen entwickeln sich in der Reihenfolge ihres Erwerbs zurück.
Es gibt jetzt neue Medikamente wie Lecanemab …
Wir dürfen bewährte Hemmstoffe nicht vergessen: Sie hemmen bestimmte Enzyme im Stoffwechsel der Gehirn-Botenstoffe. Damit lässt sich der „Point of no return“ als Beginn der Pflegebedürftigkeit um ein bis zwei Jahre hinausschieben. In den USA sind Therapien wie Lecanemab und Donanemab zugelassen worden, die auch bald in Europa verfügbar werden: Antikörper, die die Protein-Ablagerungen aus dem Gehirn abräumen -– ein wissenschaftlich betrachtet faszinierender Vorgang! Leider gibt es Nebenwirkungen: Frauen und Menschen mit Risikogenen vertragen es schlechter und die Ablagerungen befinden sich auch an Blutgefäßen – wenn sie da rausgeknabbert werden, kann es leicht zu Hirnblutungen kommen.
Gibt es vielversprechendere Forschungsprojekte?
Ich könnte mir eine Gentherapie vorstellen. Wir verfolgen seit Jahren einen Forschungsansatz, bei dem wir zeigen konnten, dass die Nervenzellen im Prozess des Zelluntergangs bei der Alzheimerschen Erkrankung ihren Zellteilungsmechanismus wieder aktivieren. Das ist deshalb so verblüffend, weil sich Nervenzellen eigentlich nicht mehr teilen, bei Alzheimer werden sie jedoch wieder aktiviert. Aber wie dies im Detail funktioniert, ist noch unverstanden.
Also versucht die Natur einen Reparaturprozess?
Ja, man muss nur unvoreingenommen hinsehen und die richtigen Schlüsse ziehen. Ich bin ein großer Fan davon, die Mechanismen der Natur abzuschauen und wenn möglich für die Therapie zu nutzen.
Warum ist Alzheimer-Forschung für uns alle wichtig?
Laut Prognosen der WHO wird Alzheimer im nächsten Jahrzehnt zur zweithäufigsten Todesursache. Außerdem werden wir immer älter und Alzheimer fordert den Pflegesektor heraus. Drittens ist Alzheimer wegweisend für die Gehirnforschung und hilft uns, das Gehirn in all seinen Funktionen immer besser zu verstehen. Wir wissen über unser Gehirn einfach irre wenig. ///
„Wir wissen über unser Gehirn einfach irre wenig.“
ZAHLEN UND FAKTEN.
Alois Alzheimer war ein deutscher Psychiater, der die „eigenartige Krankheit der Gehirnrinde“ entdeckte und 1906 erstmals beschrieb.
Alzheimer-Demenz ist eine bislang unheilbare, chronische Erkrankung und die häufigste Demenzursache. In Deutschland gelten 1,8 Millionen Menschen als demenzkrank.
Das Protein, das im Gehirn von an Alzheimer Erkrankten Verklumpungen verursacht, heißt Amyloid und verursacht sogenannte Amyloid-Plaques.
Tau-Proteine sind ein normaler Bestandteil von Neuronen und helfen beim Transport von Nährstoffen. Bei einer Alzheimer-Erkrankung ist das Tau-Protein abnormal und kann wie ein Zellgift wirken.
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