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„UNSERE GENE SIND BEEINFLUSSBAR.“

Die Epigenetik zeigt: Wir sind unseren Genen nicht schicksalhaft ausgeliefert. Aber was folgt daraus? Antworten von Prof. Dr. Jörn Walter zu neuen Forschungen und was sie für die Prävention und Behandlung von Krankheiten heute und in Zukunft bedeuten.

Interview: Karen Cop // Fotos: iStock, privat // Datum: 03.02.23

Wenn wir Genetik und Epigenetik mit einem Computer vergleichen, sind unsere Gene die Hardware und die Epigenetik die Software, die der Hardware sagt, was sie tun soll. Eins ohne das andere funktioniert nicht. Was bedeutet das für unsere Gesundheit?

Epigenetik heißt übersetzt „über der Genetik stehend“. Sie beeinflusst die Genetik auf einer übergeordneten Ebene durch einen zusätzlichen epigenetischen Code. Unsere Erbsubstanz und unsere Gene werden so zusätzlich reguliert. Diese Regulierung wird durch verschiedene feststehende und flexible Faktoren beeinflusst. Sie trägt dazu bei, unsere individuelle Gesundheit und die Auswirkungen unseres persönlichen Lebensstils zu beeinflussen.

Die Epigenetik ist ein vergleichsweise junges
Forschungsgebiet, doch es hat sich bereits gezeigt, dass z.
B. Stress das Epigenom beeinflussen kann.

Ja, Stress hat eine nachweisbare Auswirkung auf komplexe Vorgänge in unserem Körper, u. a. auf die Epigenetik. Der Stress schlägt dabei nicht wie ein Blitz direkt in die Epigenetik ein, sondern die Auswirkungen von Stress werden in epigenetische Regulierung übersetzt. Epigenetische Stressveränderungen sind in Modellen klar nachweisbar.

Veränderungen in Stress- und Krisenzeiten, die die Großeltern erlebt haben, scheinen teilweise sogar das Epigenom der Enkel zu prägen. Wie ist das möglich?

Dass das Individuum von seinen Lebensumständen epi-genetisch mitgeprägt wird, steht zweifellos fest. In welchem Ausmaß diese selbst erfahrenen Veränderungen in die nächste Generation vererbt werden, wird eingehend erforscht. Es gibt Hinweise, dass eine Zuckererkrankung der Mutter eine epigenetische Prädisposition für Diabetes Typ 2 in Nachkommen auslöst. Auch für Übergewicht sowie Herz- und Gefäßerkrankungen gibt es erste derartige Hinweise. Die Vererbung über mehrere Generationen ist aber noch nicht nachgewiesen.

Offenbar gibt es auch ein epigenetisches Gedächtnis, das mit Molekülen Umwelteinflüsse molekular nachzeichnen kann. Sie als Forscher können diese „Erinnerungen“ daran in den Zellen messen. Welche vor allem?

Am deutlichsten zu sehen sind molekulare Veränderungen durch Alter, zweitens Unterschiede der Geschlechter, drittens Umwelteinflüsse, die die Zellphysiologie und damit die Genexpression der Zelle mit beeinflussen: Neben Stress und Ernährung spielen Umweltbelastungen wie hormonähnliche Substanzen, Schwermetalle, aber auch Feinstaub eine Rolle. Auch Alkohol und vor allem Nikotin sind Substanzen, die viele epigenetische „Spuren/Narben“ im Genom unserer Zellen hinterlassen. Wir sehen und erforschen das im Gehirn und in der Leber.

 


WIE FUNKTIONIERT EPIGENETIK?

Epigenetik ist ein Fachgebiet der Biologie, das sich mit der Frage beschäftigt, welchen Einfluss die Umwelt auf die Gene von Menschen hat sowie auf andere Lebewesen und Pflanzen. Auch bei diesen gibt es eine Regulation der Gene.

Epigenetische Mechanismen (Prozesse) legen fest, welches Gen in einer Zelle abgelesen oder stumm geschaltet werden muss, damit die Abläufe in unserem Körper funktionieren, wie sie sollen. Prozesse wie Verdauung verlangen von den Zellen eine andere Aktivität und brauchen eine andere Programmierung als die Immunabwehr.

Einer der Mechanismen für die Veränderung von epigenetischen Prozessen ist die DNA-Methylierung im Genom. Dabei werden sogenannte Methylgruppen an die DNA gehängt, sodass der Code nicht ablesbar ist; bestimmte Gene sind abgeschaltet. Manche Enzyme können das rückgängig machen und wieder aktivieren.

Ein anderer Mechanismus ist die Histonmodifikation. Hauptaufgabe der Histone ist es, die DNA zu verpacken, damit sie nicht zu lang ist.

Genexpression nennt sich der Prozess, in dessen Verlauf das genetische Material der Zellen in eine für uns nutzbare Form übergeht.

Epigenetische Prozesse beeinflussen nicht das Genom, sie verändern nur das Epigenom – so wird die Gesamtheit der epigenetischen Veränderungen genannt. Diese können aber Einfluss haben auf die Stärke bzw. Schwäche der Gene, die an- und abgeschaltet werden.

Epigenetische Mechanismen schaffen in manchen Zellen ein langfristiges Gedächtnis. Ein Beispiel sind Immunzellen, die im Laufe des Lebens trainiert werden, um schnell reagieren zu können. In diesem Standby-Modus sind sie epigenetisch vorprogrammiert, aber noch stummgeschaltet. Wenn sie den entsprechenden Impuls bekommen, können sie schnell angeschaltet werden und gezielt wirken.

 


Zurück zur guten Nachricht: Wir können dank Epigenetik unsere Entwicklung auch beeinflussen. Bei den Bienen wird aus einer Artgenossin durch Füttern mit Gelée royale eine Königin statt einer Arbeitsbiene. Könnten auch wir unser Epigenom derart positiv beeinflussen?

Ich kenne leider keine Substanz, die uns zu Königin oder König machen würde. Allerdings gibt es Fortschritte bei der epigenetischen Verjüngung von Zellen. Erste Versuche deuten an, dass man die epigenetische Uhr ein wenig zurückdrehen kann. Auch zeigen Forschungsergebnisse, dass Menschen unterschiedlich schnell epigenetisch altern: einige schneller, andere langsamer. Hier gilt es noch zu erforschen, ob und wie durch aktives Leben, vitaminreiche Ernährung, Sport und Reduktion von Genussmitteln die Alterung beeinflusst werden kann. Uns stellt sich dabei auch die Frage: Was heißt eigentlich Altern? Ist es etwas Schlimmes oder ein natürlicher Prozess, der unser Leben notwendigerweise begleitet? Dann würde man sagen: Okay, es muss so was wie gesundes epigenetisches Altern geben, weil sonst vielleicht Erkrankungen entstehen, die zwar Zellen jünger aussehen lassen, aber den Körper außer Rand und Band bringen.

nnte ich mein Krebsrisiko senken?

Ein familiäres Krebsrisiko ist genetisch bedingt. Daneben gibt es epigenetische Mechanismen, die dieses Krebsrisiko mit unterstützen. Sie sind wie alles andere in unserem Leben auch abhängig davon, wie wir uns verhalten. Rauchen beispielsweise verändert unsere Epigenetik extrem, das ist sofort im Epigenom zu sehen. Das Gleiche gilt für andere toxische Substanzen, die wir aufnehmen und die unserem Körper nicht guttun. Also sollten wir versuchen, uns gesund und ausgewogen zu ernähren. Noch können wir das Epigenom nicht so gezielt beeinflussen, dass das Krebsrisiko sinkt. Das scheitert bislang an zwei Punkten: Erstens kennen wir jene Gene noch nicht genau, die wir epigenetisch beeinflussen müssen. Zweitens ist es schwierig, die Zellen im Körper zu erreichen, um gezielt zu therapieren. In zehn bis zwanzig Jahren sehe ich aber hier neue Möglichkeiten.

„Erste Versuche deuten an, dass man die epigenetische Uhr etwas zurückdrehen kann.“

Im Rahmen eines weltweiten biomedizinischen Großforschungsprojekts (IHEC) zur Entschlüsselung des Epigenoms waren Sie Koordinator in Deutschland. Es ging darum, epigenetische Verbindungen zu entdecken, die für die Diagnose, Therapie und Prävention von Gesundheitsrisiken nützlich sind. Was haben Sie herausgefunden?

Unser gemeinschaftliches Ziel war und ist es, eine Art Referenzatlas zu schaffen. Er zeigt, welche epigenetischen Prägungen eine Körperzelle trägt und wie diese in der Erkrankung verändert sind. Wir lernen durch Vergleiche ganz neue Dinge über Gesundheit und Krankheit. In umfassenden Datenbanken werden diese Informationen der medizinischen Forschung frei zur Verfügung gestellt. Speziell haben wir uns dabei mit Fragen zu Lebererkrankungen beschäftigt: Was passiert epigenetisch, wenn die Leber sich verändert, zunächst verfettet und dann fibrotisch wird? Welche Unterschiede zeigen Frauen und Männer? Daneben erforschen wir das Gedächtnis von Immunzellen, um zu verstehen, wann und warum Immunzellen ihr Gedächtnis verlieren oder nicht reagieren und erschöpft sind. Die Epigenetik bringt viele neue Einsichten für die Immunforschung.

Prof. Dr. Jörn Walter studierte Biologie und ist seit 2000 Professor für Genetik und Epigenetik an der Universität des Saarlandes. Er erforscht Kernfragen der Epigenetik und wie epigenetische Veränderungen in Zukunft für die personenbezogene Diagnostik genutzt werden können. Außerdem war er Koordinator des deutschen DEEP-Programms und ist Mitgründer des Biotech-Unternehmens Epigenomics AG.

Wie vielversprechend ist die Epigenom-Forschung für Volkskrankheiten wie Diabetes?

Bei dem ernährungs- und altersabhängigen Typ-2-Diabetes geht man davon aus, dass die Programme in den Zellen ab einem bestimmten Punkt nicht mehr umkehrbar sind, sie machen immer weiter Fehler. Dementsprechend muss künstlich eingegriffen werden, um den Zuckerstoffwechsel mit zu steuern. Ein Ziel wäre es, Zellen außerhalb des Körpers epigenetisch so zu manipulieren, dass sie die normalen Programme wieder ausführen. Wenn wir sie zurückgeben, agieren sie im ganzen Körper.

Funktioniert das auch bei Autoimmunkrankheiten?

Wahrscheinlich begrenzt. Die Ursachen von Autoimmunerkrankungen sind vermutlich komplex – der Verlust epigenetischer Regulation spielt aber sicher auch eine Rolle. So könnte eine Prägung von Immunzellen ein epigenetisches Gedächtnis im Immunsystem hinterlassen haben, das durch einen Kontakt quasi wachgerüttelt wird und zu einer unkontrollierten Reaktion gegen körpereigene Zellen führt. Wir wissen dabei noch nicht, was solche Reaktionen auslöst und wie wir diese beeinflussen könnten. In unserem Immunsystem (wie in vielen anderen Zellen) ist alles eine Art epigenetisches Yin und Yang. Etwas löst eine Reaktion aus, etwas anderes dämpft sie, beides ist wichtig. Bei Autoimmunreaktionen gehen viele Forscher davon aus, dass das Dämpfende nicht mehr richtig funktioniert, und das kann epigenetische Ursachen haben.

Die Ursachen sind von Fall zu Fall unterschiedlich. Werden wir in Zukunft einen epigenetischen Pass haben, damit eine medizinische Behandlung exklusiv angepasst werden kann?

Nennen wir es epigenetische Diagnostik. Wir werden in Zukunft nicht nur die Gene im Hinblick auf unsere Veranlagung, bestimmte Erkrankungen zu bekommen, anschauen – wir werden auch epigenetische Muster auslesen, um zu beurteilen, wie stark sie sich manifestieren. Gibt es frühe epigenetische Zeichen, dass die Zellen der Bauchspeicheldrüse nicht richtig funktionieren oder es im Darm zu entzündlichen Erkrankungen kommt? Ich denke, als Erstes werden wir so Krebserkrankungen betrachten und durch epigenetische Diagnosen individuellere Behandlungen ermöglichen können. Bei den Volkskrankheiten sehe ich das etwas später, weil bei diesen sehr komplexen Erkrankungen komplexe Entscheidungswege zu betrachten sind. Aber ja: Das Testen des Geschehens in Genom und Epigenom führt zu einer modernen und für Patienten viel treffenderen Diagnostik.

„Wir werden uns in Zukunft nicht nur die Gene im Hinblick auf unsere Veranlagung anschauen.“

Klingt aufwendig, so viele Tests für einzelne Patienten durchzuführen. Wird das in Zukunft einfach sein?

Ja, klar! Wir haben uns vor zwanzig Jahren nicht vorstellen können, unser Genom sequenzieren zu können. Das erste hat eine Milliarde gekostet; heute kostet das Entschlüsseln eines Genoms 200 bis 300 Euro. Das Entschlüsseln dauert auch nur noch ein oder zwei Tage. Das ist ein Quantensprung und gilt auch für das Epigenom. Die Behandlung ist also durchaus erschwinglich, wenn ich das mit Kosten für Bildgebungen wie das MRT (Magnetresonanztomographie) vergleiche. ///


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