"WIR HABEN JETZT DIE GRÖSSTE CHANCE."
Die Hitzewellen nehmen zu und Deutschland schwitzt zunehmend. Wie können wir damit umgehen, wir alle und jeder Einzelne, jetzt und in Zukunft? Antworten und Tipps von Umweltmedizinerin Prof. Dr. Traidl-Hoffmann, die auch die Bundesregierung berät.
Was bedeutet der Klimawandel für unsere Gesundheit?
Der Klimawandel ist die größte Bedrohung für unsere Gesundheit im 21. Jahrhundert! Das sage nicht nur ich, das sagt die Weltgesundheitsorganisation. Der Klimawandel macht krank von Kopf bis Fuß. Konkret: Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen nehmen zu, bis hin zu Todesfällen. Wenn es sehr heiß wird, kann es zu Lungenversagen, Herzinfarkt oder Schlaganfall kommen – umso häufiger, je länger eine Hitzeperiode andauert. Wir beobachten in den letzten Jahrzehnten, dass nicht nur die Hitzetage mehr werden, sondern auch die Hitzeperioden von zehn Tagen am Stück mit über 30 bis 35 Grad. Meteorologen und Klimaforscher prognostizieren für Deutschland, dass diese Hitzewellen in Zukunft weiter zunehmen werden.
Unser Körper scheint nicht für Hitzewellen gemacht zu sein – warum halten wir hohe Temperatur kaum aus?
Die Hitze macht uns klar, wie verletzlich wir sind, denn bei 42 Grad Körpertemperatur stirbt der Mensch. Dann werden wir gekocht, verändern sich die Eiweiße im Körper und kein Enzym-Schlüssel passt mehr in sein Schloss. Wir haben eine Kerntemperatur von 37 Grad; diese müssen wir halten, angesichts aller Umgebungstemperaturen. Dann funktioniert unser Gehirn sowie alle Prozesse. Wenn es draußen heiß ist, müssen wir die Hitze ausgleichen: Wir stellen die Gefäße weit, deswegen ist man so rot im Gesicht. Wir fangen an zu schwitzen. Für den Körper sind diese Mechanismen anstrengend, aber als gesunder Mensch, der bei Hitze genug trinkt, ist das zeitweise zu ertragen. Kranke Menschen werden dann kränker. Menschen mit Demenz oder einer Herz-Kreislauf-Erkrankung sehen wir in den Krankenhäusern, denn jede Stunde mehr, jeder Tag mehr bringt gerade Alte, Kranke, Schwache und Kinder in die Dekompensation, heißt: Der natürliche Ausgleich versagt.
Dass das Gehirn nicht mehr arbeitet wie gewohnt, spüren auch junge, gesunde Menschen am Schreibtisch. Warum trifft Hitze das Gehirn besonders?
Das Gehirn betrifft Hitze insbesondere, weil es eine Umgebungstemperatur von 23, 24 Grad braucht. Wenn die höher steigt, können wir uns nicht mehr konzentrieren, werden fahrig und es passieren auch vermehrt Unfälle. Mir haben im letzten Sommer so viele Bürotätige erzählt, dass sie nicht mehr arbeiten konnten. Unsere Büros sind zum Teil nicht für diese starke Hitze ausgelegt.
Manchmal denkt man ja, ach, in Afrika oder in unseren beliebtesten südlichen Urlaubsländern ist es immer so heiß wie jetzt bei uns und alles halb so schlimm – was machen die anders?
Da geht man auch nicht raus, wenn es heiß ist. Die schützen sich vor der Hitze! Dazu kommt eine genetische Resilienz, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat. Wir haben mit nordeuropäischen Körpern nicht die Möglichkeit, unsere Gene so schnell zu ändern, dass wir klimaresilient werden. Wir haben auch keinen Lebensstil, der klimaresilient ist. Bei uns arbeiten Straßenarbeiter mittags um zwölf Uhr! Deshalb brauchen wir einen veränderten Lebensstil.
Also Siesta für alle?
Ja, wir brauchen die Siesta. Und andere Städte. Waren Sie mal in Singapur? Da ist es sehr heiß, aber auch unfassbar grün. Wir brauchen keine Parks in den Städten, sondern die Stadt muss ein Park sein! Wir brauchen Trinkbrunnen, begrünte Fassaden und begrünte Dächer, damit auch noch in 50 Jahren Menschen in unseren Städten leben können.
Wie können wir trotzdem jetzt im Sommer bei 40 Grad einen kühlen Kopf bewahren? Was raten Sie als Ärztin?
Viel trinken! Also wirklich morgens anfangen mit ein bis zwei Gläsern Wasser pro Stunde – keine eiskalten Getränke, lauwarmer Tee ist wunderbar. Auch kalt duschen ist kontraproduktiv, lieber lauwarm. Oder einfach mal einen kühlen Waschlappen in den Nacken legen, dazu ein erfrischendes Fußbad am Schreibtisch. Dann wirklich ganz früh morgens um fünf alles durchlüften, die Fenster zumachen, Rollläden runterziehen und die Räume verschatten. Und sich leicht ernähren, möglichst pflanzenbasiert! Schweinebraten ist nichts für heiße Tage, lieber Obst und Gemüse essen. Kichererbsen und Linsen sind gute Nahrungsmittel für eine gesunde Darmflora, da sind genau die Substanzen drin, die wir brauchen, damit die guten Bakterien im Darm wachsen.
„Legen Sie einen kühlen Waschlappen in den Nacken, dazu ein kühles Fußbad!“
Sollten wir auf Sport verzichten?
Ich habe in Rom gelebt und mich auch auf Marathons vorbereitet: Dort bin ich morgens von sechs bis halb acht gelaufen. Abends war es noch nicht kühl genug, dazu kommt verstärkt Ozon, am Stadtrand besonders. Bewegung bleibt aber wichtig, gerade für ältere Menschen: spazieren gehen, und sei es mit dem Rollator.
Für ältere Menschen ist Hitze besonders problematisch. Wie können sie vorbeugen?
Ein älterer oder kranker Mensch sollte mit Blick auf Hitzeperioden vorausschauend agieren, heißt: Wenn er weiß, dass nächste Woche eine Hitzewelle kommt, schon mal einkaufen, den Nachbarn Bescheid sagen etc. Hitzeschutz ist eine hochsolidarische Angelegenheit. Gerade an heißen Tagen müssen wir aufeinander achten! Vielleicht sogar für Schwächere einkaufen gehen, damit sie gar nicht rausmüssen. Und noch etwas möchte ich Menschen sagen, die krank sind und Medikamente nehmen: Gehen Sie vor einer Hitzeperiode zu Ihrem Arzt und besprechen Sie die Therapie, denn viele Arzneimittel sollten bei Hitze anders dosiert werden, z. B. Medikamente gegen Bluthochdruck. Auch Medikamente, die über die Nieren ausgeschieden werden, müssen in ihrer Dosierung angepasst werden.
Sie bieten in Augsburg Klimasprechstunden an. Was ist darunter zu verstehen?
Das ist eine klimaorientierte Gesprächsführung, die das Thema Klimawandel und Gesundheit immer mitdenkt. Jeder Arzt sollte das letztendlich tun. Auch der Patient mit Fußpilz hört von mir, dass gesunde Ernährung gut für ihn ist, so wie für den Planeten. Außerdem bekommt der Allergiker Tipps in Bezug auf Allergien, der Psoriatiker meine Tipps in Bezug auf Hitze und chronisch entzündliche Hauterkrankungen, dasselbe gilt für Neurodermitiker.
Der Pollenflug begann dieses Jahr schon im Februar und somit die „Heuschnupfen“-Saison, aber auch sonst häufen sich insbesondere Allergien – warum?
Erstens: Die Pollensaison wird länger, die Pollen fliegen früher im Jahr, Haselpollen teils schon um Weihnachten.
Zweitens: Es fliegen mehr Pollen pro Tag. Ein Grund dafür ist CO2, hinzu kommt Luftverschmutzung, aber auch Trockenstress mangels Regen führt bei den Bäumen dazu, dass sie mehr Pollen produzieren.
Drittens: Der Pollen wird aggressiver, weil er mehr von dem Eiweiß freisetzt, das bei uns eine Allergie auslöst.
Viertens: Klimawandel und Allergien bringen neue Pollen mit sich, etwa Ambrosia, das beifußblättrige Traubenkraut. Ambrosia wuchert bei uns auf Brachflächen oder am Randstreifen der Autobahn, in Bayern gibt es bereits Ambrosia-Felder. Die Pollen sind noch kleiner als Birkenpollen; unter dem Mikroskop sehen sie wie Stacheligel aus, so richtig aggressiv, und das sind sie auch: Die verursachen direkt aggressives Asthma.
„Zecken finden immer bessere Lebensbedingungen vor.“
Auch Infektionen scheinen klimabedingt zuzunehmen …
Vor allem die „vektorvermittelten“ Erkrankungen nehmen zu. Das sind Erkrankungen, die über Mücken oder Zecken übertragen werden. Sie kennen sicherlich die Borreliose, die wie die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) durch Zeckenstiche übertragen wird. Auch Zecken finden wegen der klimatischen Bedingungen immer bessere Lebensbedingungen vor, werden im Januar aktiv und breiten sich dementsprechend aus. Sogar die Borrelien in den Zecken sind bei verstärkter Wärme aktiver. Aber wir sehen auch ganz neue Erkrankungen bei uns. Die Tigermücke bringt z. B. das West-Nil-Fieber-Virus, das als Tropenerkrankung galt. Das Gleiche gilt für die Leishmaniose und Chikungunya (Anm. der Red.: hochfiebrige, tropische Infektionskrankheiten, die durch Mücken übertragen werden) – das sind alles Erkrankungen, die man sich merken kann, weil sie auch bei uns zunehmen.
Wie geht es unserer Gesundheit in 20 Jahren, wenn es uns nicht gelingt, die Klimakrise zu bewältigen?
Wir sollten keine Panik oder Depression entwickeln, wir brauchen Hoffnung. Die Klimakrise ist seit Jahrhunderten die größte Herausforderung für die Menschheit, aber auch die größte Chance, wirklich etwas Besseres zu schaffen.
Womit fängt jeder Einzelne am besten an?
Trotz Hitze nicht mit dem Auto zum Bäcker fahren, öfter den Strom abschalten, auf sein Gewicht achten, gesund essen …
Als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen (WBGU) beraten Sie die Bundesregierung – was ist Ihr wichtigster Rat?
Das Gesundheitssystem muss ein Gesundheitssystem werden und kein Krankheitssystem. Das Thema Gesundheitsvorsorge muss an erster Stelle stehen! Aber wenn wir den Klimawandel nicht abmildern, dann hilft uns auch die ganze Resilienz und Gesundheitsvorsorge nicht mehr. ///
MEHR TIPPS FÜR HEIßE TAGE.
Bei der Landesarbeitsgemeinschaft Gesundheitsschutz im Klimawandel (LAGiK) finden Sie Infomaterial mit vielen weiteren, kostenlosen Tipps für ältere Menschen, Arbeitnehmer, im Freien Arbeitende etc.: www.lagik.bayern.de
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