„KÜNSTLICHE INTELLIGENZ IST MEHR ALS GUTE DATENSÄTZE.“
Wie kann Künstliche Intelligenz Ärzte unterstützen? Und Patientinnen und Patienten bei der Prävention? Der international renommierte KI-Experte Prof. Dr. Martin Hirsch sprach mit uns über die Möglichkeiten in der Medizin der Zukunft und Ethik.
Was kann Künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin oft besser als wir Menschen?
Heute wird Künstliche Intelligenz häufig gleichgesetzt mit „Machine-Learning“, dem maschinellen Lernen. Dabei durchlaufen große bekannte, von Menschen markierte Datenmengen die künstlichen neuronalen Netze im Computer. Das Netz lernt dabei, die Daten zu klassifizieren, um neue, dem Computer bislang unbekannte Datensätze „wie ein Mensch“ einzuordnen, z. B. Krankheiten in Röntgenbildern zu erkennen. Bei der Erkennung von Mustern, kann diese KI eine wichtige Rolle spielen – einfach deshalb, weil sie derartige Arbeiten in immer gleicher Qualität 24 Stunden am Tag durchführen kann, ohne müde zu werden oder nach Hause zu wollen. In der Medizin wird KI bald den Ärztinnen und Ärzten helfen, sogenannte seltene Erkrankungen besser zu diagnostizieren. Diese sind, wie der Name schon sagt, selten und es gibt über 8.000 davon. Die Ärztinnen und Ärzte werden froh sein, solche technischen Kollegen an ihrer Seite zu haben.
Wie wichtig sind Datenspenden für die Entwicklung einer erfolgreichen KI, z. B. in Zeiten einer Pandemie?
Eine Künstliche Intelligenz braucht viele Datensätze, damit ihre zugrunde liegenden Netzwerke gut lernen, und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler neue Zusammenhänge finden können. Von daher sind Datenspenden für diese Bereiche der Künstlichen Intelligenz äußerst hilfreich, vielleicht sogar unentbehrlich. Neben diesen datenbasierten Systemen gibt es aber auch wissensbasierte Systeme. Diese verfügen über Tausende von fundierten Krankheitsmodellen, die zu einem großen Entscheidungsnetz kombiniert werden. Darin werkeln dann Algorithmen: technische Problemlöser, die von Teams aus Ingenieuren, Medizinern, Physikern, Informatikern entwickelt werden. Solche Systeme können Fragen bei einer Art ärztlichem Vorgespräch steuern und versuchen herauszufinden, wie dringend ärztlich behandelt werden muss, sowie zu welchen Krankheiten die Symptome passen.
Was bringt ein Handytracking zur Verfolgung der Infektionsketten, auch aus ethischer Sicht?
Von allen Tracking-Ansätzen, die mir bekannt sind, gefällt mir der deutsche Ansatz am besten, denn er erfolgt komplett anonymisiert. Wenn genügend Bürgerinnen und Bürger mitmachen, kann der Ansatz ausschlaggebend sein, um Infektionsketten frühzeitig zu unterbrechen. Unter ethischen Gesichtspunkten halte ich es im Sinne der Solidargemeinschaft für sittlich fragwürdig, als Teil dieser Gemeinschaft nicht an dem Tracking teilzunehmen.
Welche ethischen Lehren müssen zwingend aus der Corona-Krise gezogen werden?
Es ist ein Wesenszug der Ethik, dass sie nicht logisch zwingend, sondern allenfalls vernünftig, also ganzheitlich sinnvoll und daher geboten ist. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass wir gelernt haben: erstens, dass digitale Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung äußerst wirkmächtig sein können und zukünftig wahrscheinlich unabdingbar sein werden. Zweitens, dass in einer gemeinschaftlichen Anstrengung, auch wenn sie unbequem ist, viel erreicht werden kann. Und drittens, dass Viren keine politischen oder nationalen, ethnischen oder kulturellen Grenzen kennen, sondern am besten in einer alle derartigen Grenzen übergreifenden Solidarität bekämpft werden können. Vor SARS-CoV-2 sind alle Menschen gleich.
Was können wir Menschen besser als KI?
- „One-Shot-Learning“: Computer brauchen Hunderte von Beispielen, um etwas zu lernen. Wir Menschen können das aus einem einzigen Beispiel, oder einer einzigen Erfahrung. Das liegt daran, dass Menschen die Dinge „verstehen“, also in mentale Handlungsmodelle übersetzen.
- Querdenken: Nicht nur in der Kunst spielt Kreativität eine Rolle. Auch in Ingenieurwissenschaften, Wirtschaft, Politik oder im privaten Bereich – immer wieder müssen wir neue Wege finden; Wege, auf denen man bisher noch nicht gegangen ist.
- Werte abwägen: Wann darf ich einem Menschen beim Sterben helfen? Steht eine sehr teure Dauermedikation noch in einem verantwortbaren Verhältnis zum Nutzen?
Solche Fragen sind es, die das Wesen der Medizin ausmachen. KI kann hier allenfalls Sachargumente beisteuern, komplexe Werte abzuwägen überfordert sie hoffnungslos.
Könnte KI menschliche Mediziner einmal ersetzen?
Kaum. Der menschliche Teil der Medizin, die Empathie, die ehrliche Zuwendung, das achtsame Gespräch, der rettende Einfall, die gemeinsame Zeit, die zugrunde liegenden Wertesysteme – all das ist zwar etwas unter die Räder gekommen, aber immer noch Kernstück der Medizin. Ich hoffe, dass KI-Systeme den technisierten und bürokratischen Teil ärztlichen Arbeitens reduzieren, sodass wieder mehr Platz für den menschlichen Teil entsteht.
Könnten Sie uns ein Fallbeispiel aus der Praxis nennen, das uns veranschaulicht, wie KI schon heute hilft?
Ein einzelnes Beispiel sagt wenig aus, aber ich erinnere mich an Alyssa, eine Frau mittleren Alters. Sie litt seit vielen Jahren an Schmerzen im Unterbauch, hatte Operationen und Fehldiagnosen hinter sich und konnte wegen ihrer Schmerzen nicht mehr arbeiten. Schließlich fand sie sich damit ab, dass mit ihr psychisch etwas nicht in Ordnung sei. Alyssa beantwortete trotzdem alle Fragen einer KI. Am Ende bekam sie die Auskunft, dass die seltene Erbkrankheit CAPS Ursache ihrer Symptome sein könnte. Ein Arzt (der die Krankheit auch nicht kannte) klärte die Situation mit Experten ab – es war tatsächlich CAPS.
Symptom-Checker, wie wir sie entwickeln, sind weit davon entfernt, perfekt zu sein, aber die Geschichte zeigt, welches Potenzial in solchen KI-Anwendungen steckt. Heute verwendet wohl jede Klinik sie für die Diagnose von seltenen Erkrankungen. Zukünftig wird das auch für „normale“ Krankheiten der Fall sein. Und der Patient kann schon im Wartezimmer Fragen beantworten für die Vordiagnose der KI.
Sie bauen derzeit das „Zentrum für digitale Medizin“ an der Universität Marburg auf. Welches ist Ihr liebstes Forschungsprojekt?
Das Themenspektrum ist vielfältig und reicht von Apps zur Pandemie-Bekämpfung bis hin zu einem System, das im Bereich der Sterbehilfe unterstützen könnte. Bei ersterem Themenschwerpunkt stellt sich die Frage: Wie kann KI in einer Pandemie wie COVID-19 helfen, Bürgerinnen und Bürger zu leiten und Unikliniken vor Überfüllung der Intensivstationen zu schützen? Wie kann, soll und darf ein solches Leitsystem aussehen?
In Marburg haben wir eines in enger Zusammenarbeit mit Landratsamt, Gesundheitsamt, Bürgermeister, Ärztenetzen und Universitätsmedizin aufgebaut. Wir versuchen nun, dauerhaft digitale Leitstrukturen im Landkreis Marburg-Biedenkopf einzurichten. Das Alyssa-Beispiel zeigt, wohin die Reise gehen wird, und wo KI schon heute Gesundheitssysteme verändert. Zwei andere Themen sind: Wie beeinflusst KI das Denken der Ärztinnen und Ärzte? Wie kann KI das Zeitalter der personalisierten Prävention einläuten?
Könnte in Zukunft jeder KI-Ärzte zu Hause haben?
Heute ist eine Ärztin oder ein Arzt vor allem jemand, der mir hilft, wieder gesund zu werden, KI wird Ärzte dabei unterstützen. Die eigentliche Wendung aber wird sie bringen, wenn sie ein personalisiertes Frühwarnsystem installiert. Das kann meinem Lebensstil und meinen persönlichen Risiken entsprechend messen, ob sich bei mir etwas Ungutes anbahnt. Dann warnt die KI mich, noch bevor sich Symptome zeigen oder gar chronisch werden.
Auf diese Weise gelangen wir zu einem Gesundheitssystem, das diesen Namen wirklich verdient. Denn dann kümmert sich das System vor allem um den Erhalt von Gesundheit, und weniger um die Beseitigung von Erkrankungen.
Bei welchen Herausforderungen im Gesundheitswesen kann KI helfen, Probleme relativ kostengünstig zu lösen?
KI wird dabei helfen, Routineaufgaben zu erledigen, und so dem ärztlichen Personal Freiräume für Wichtigeres verschaffen. Das wird auch Geld sparen. Ebenfalls günstiger wird sich die Steuerfunktion von KI-Symptom-Checkern auf den Smartphones der Bürgerinnen und Bürger auswirken. Diese Symptom-Checker werden zu weniger unnötigen und teuren Gängen in die Notaufnahmen der Kliniken führen, und Erkrankte mit seltenen Erkrankungen gegebenenfalls direkt zu Spezialistinnen und Spezialisten leiten.
Ihr Großvater war der Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg – was haben Sie von ihm gelernt?
Der Schöpfung achtsam zuzuhören. Über die Jahre ergibt sich daraus eine Haltung, die den Menschen nicht als Krönung, sondern als hochgradig Verantwortung tragenden Teil der Schöpfung ansieht. Eine Haltung, die sehr schön mit dem deutschen Wort „Demut“ beschrieben ist. ///
Zur Person:
Prof. Dr. Martin Hirsch, 57, ist einer der international führenden Experten im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Am 1. Januar 2020 wurde er an die neu eingerichtete Professur „Künstliche Intelligenz in der Medizin“ am Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg sowie des Universitätsklinikums Marburg berufen. Dort wird erforscht, wie KI durch Apps und Systeme zum Wohl der Patienten nutzbar gemacht werden kann.
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